Bis Cochabamba (8.4. - 17.4.2012, 465km)
Der bolivianische Grenzbeamte gibt mir trotz ausdrücklicher Bitte nur ein Visum für 60 Tage. Warum weiss ich nicht. 90 Tage, so meinte ich, dürfe man als Tourist pro Jahr in Bolivien weilen.
Gleich wenige Kilometer weiter ist das ehemalige Bauern- und Fischerdorf Copacabana. Heute lebt der Ort, dank seiner herrlichen Lage zwischen Hügeln am Ufer des Lago Titicaca, mehrheitlich vom Tourismus und ein paar schreckliche hochgezogene Hotels verschandeln das Dorfbild. Am Ufer werden Paddelboote vermietet und die Restaurants und Diskotheken reihen sich aneinander. Die Kundschaft ist eher jünger und lässt es in der Hauptferienzeit zünftig krachen. Ich kann froh sein, dass das Osterwochenende just vorbei ist. In den Strassen habe man sich kaum fortbewegen können, so bevölkert sei es gewesen, die Hotels wären mehr als ausgebucht und mein Zimmer drei Mal so teuer gewesen wie er es mir jetzt anbiete, erzählt mir der Hotelier mit breitem Lachen. „ Nochmals Schwein gehabt“, denk ich mir.
Auf dem „Dorfhügel“ am nächsten Tag, ist die Aussicht echt sehenswert. Zusammen mit 3 Bolivianern aus dem tropischen Santa Cruz hocken wir da oben, geniessen und plaudern.
Auf dem bolivianischen Altiplano kann man wieder zelten, wenn auch Campesinos auf dem Heimweg von der Feldarbeit mich beim kochen entdecken. Die Leute sind freundlich und neugierig. Mit der Verständigung klappt es nicht immer, da hier in der Region um La Paz auf dem Lande oft nur das indigene Aymara gesprochen wird.
Von El Alto, wie der Stadteil oberhalb von La Paz auf dem Altiplano heisst, hat man eine gute Aus- und Übersicht auf die Hochhäuser unten im Zentrum und die Bezirke, die sich bis hoch hinauf ziehen. Ein Mann empfiehlt mir, die „Autobahn“ zu nehmen welche in die Innenstadt führt. Autobahn ist wirklich zuviel gesagt. Die Strasse führt sehr kurvige 10 Kilometer hinunter und auf dem unebenen und mit Schlaglöchern versetzten Pannenstreifen versperren mir Busse, Taxis und Lastwagen laufend den Weg. Mit Krampf in den Fingern vom bremsen, erreiche ich die Plaza San Francisco, mache ein Erinnerungsfoto und frage nach einem Hotel. Man lotst mich eine enorm steile Strasse hoch und ich finde Quartier in einem kleineren Hotel der historischen Altstadt. Hier findet man Souveniers, Restaurants und allerlei Läden in denen Campesinos typische Produkte verkaufen. Cocablätter, Gemüse und andere Lebensmittel sowie natürlich auch Kleider, Pullover und Ponchos. Man kann diese jetzt gut gebrauchen, denn es ist kalt und regnerisch.
Nach ein paar Tagen in der Grosstadt zieht es mich wieder auf’s Velo. Ich kämpfe mich auf extrem steilen Nebenstrassen wieder hoch nach El Alto und dort durch den chaotischen Morgenverkehr auf die Hauptstrasse nach Süden Richtung Oruro. Nach etwa 70 Kilometern, in Tolar, sehe ich ein passables Hotel und nehme mir dort ein Zimmer. Die Campesinos in den Dörfern des bolivianischen Hochlands bieten nur selten, wie soll ich sagen, „gringotaugliche“ Hotels an. Meist sind es nur kahle, unsauberer Räume mit einer Pritsche und mit allerlei Ungeziefer versehen. Das Hotel in Tolar ist da eine angenhme Ausnahme und so ich nehme die Gelegenheit wahr, in einem warmen Bett zu übernachten.
In Caracollo, bei der Abzweigung Richtung Osten nach Cochabamba, treffe ich auf Rolando aus Argentinien. Der junge Mann, der sich auf seiner ersten Radreise befindet und erst seit kurzer Zeit in Bolivien unterwegs ist, beklagt sich über die katastrophale Infrastruktur in den Dörfern des Landes, vor allem eben diese lausigen Hotels. Er schleppt seit längerem eine Erkältung mit sich, wohl von den kalten Nächten im Zelt. Seine Ausrüstung ist nicht ganz passend für das kalte Klima hier oben und er bestaunt meine Velotaschen. Leider könne man diese und andere Qualitätsausrüstung in Buenos Aires nicht kaufen wegen idiotischer Einfuhrbestimmungen. Wir reden noch eine Weile „Velofahrerlatein“ wünschen einander Alles Gute und verabschieden uns. Im Dorf kaufe ich mir ein paar Liter Wasser, fahre noch etwas weiter Richtung Cochabamba und stelle mein Zelt, etwa 500 Meter abseits der Strasse, in der Pampa auf.
Es wird nun zunehmend gebirgiger und die Strasse führt über hohe Pässe bevor es spektakulär hinunter geht nach Parotani. Dort kann ich dann endgültig die warmen Kleider in die Taschen stopfen denn ich bin hier vielleicht nur noch 2500 M.ü.M und es ist angenehm warm. Die flachen 40km nach Cochabamba sind dann nur noch ein Klacks.
Cochabamba ist, wenn man sich das Zentrum anschaut, eine der modernsten Städte Boliviens. Alte, koloniale Gebäude sieht man nur wenige. In den Aussenbezirken freilich geht es nicht mehr so modern zu und her. Die Stadt liegt in einem weiten fruchtbaren Tal und, zusammen mit dem ganzjährigen, sehr angenehmen Klima, sind dies bestimmt die Hauptgründe dafür, dass die Stadt boomt. Touristisch läuft vielleicht nicht ganz so viel wie in La Paz oder Sucre, vielleicht eben gerade weil es kein eigentliches koloniales oder historisches Zentrum gibt. Für bolivianische Verhältnisse ist es recht teuer hier. Das Wahrzeichen ist die riesige Christusfigur, die mit ausgebreiteten Armen auf einem konischen Hügel, über die Stadt wacht.
In den Konditoreien im Zentrum wird feinstes Süssgebäck, ja sogar Cremeschnitten fast so lecker wie in der Schweiz, angeboten. Für mich immer ein Highlight, so verrückt es auch klingen mag. Da es hier spriesst und gedeiht in der Umgebung, isst man sehr vielfältig und immer mit frischen Zutaten.
Weiter bis Sucre (22.4. - 27.4.2012, 375km)
Was jetzt noch vor mir steht sind die letzten knapp 400 Kilometer nach Sucre. Da man mich schon so oft falsch informiert hat, schenke ich dem jungen Mann in der Touristeninformation keinen Glauben, als er mich auf die etwas längere Strecke aus der Stadt hinaus verweist. Es sei bedeutend flacher, meint er. "Papperlapapp! Ich nehme den direkteren Weg,“ so meine Überzeugung. So nach ca. 20 Kilometern werde ich hart bestraft für meine Besserwisserei. Die Strasse führt über einen veritablen 4000-er Pass hinauf in die Kälte und dann steil hinunter wieder in die wärmere Zone. Ein unnötiger Kraftaufwand, mal abgesehen von den landschaftlichen Reizen.
Am Abend, in der Nähe des kleinen Bauerndorfes Tiraque, sehe ich 2-3 Campesinos, die vom sonntäglichen Umtrunk im Dorf auf dem Heimweg sind und dabei die halbe Strassenbreite benutzen. Bei der Brücke über den Fluss, ich möchte dort mein Zelt aufschlagen, begegne ich einem von ihnen. Es ist Juan auf dem Weg zu seinem Hof. Wir kommen ins Gespräch und er besteht darauf, dass ich bei ihm auf seinem Grund campe. Ich traue ihm, denn er scheint nur etwas angeheitert und ein netter Kerl zu sein. Ich könne im leerstehenden Nebengebäude übernachten, meint er. Ich stelle das Zelt daneben auf, denn es ist mir wohler darin zu schlafen als in dem Raum mit dem betonierten Boden. Sofort schickt er eines seiner 7 (!) Kinder um Wasser zu bringen. Er ist ständig am reden und preist dabei seine Gastfreundlichkeit an und wie toll es doch sei, dass wir uns getroffen hätten. Ich mache ein paar faule Sprüche über seinen etwas alkholisierten Zustand worauf er etwas beleidigt ist. Das heute sei eine Ausnahme seit langem gewesen, ist seine Antwort. Später koche ich uns einen Kaffee und nach und nach gesellt sich die Kinderschar und seine Frau für eine Weile zu uns. Ich koche Spaghetti mit Thunfisch und zwei kleine Knirpse haben grossen Appetit darauf. Ich muss zusehen, dass ich genügend für mich abzwacken kann nach diesem harten Tag. Später beim Cocatee macht der Nachbar noch seine Aufwartung, denn er hat das Licht im Haus und das Zelt davor gesehen. Wann hat man hier in Tiraque schon einen Gringo zu Gast. Am Morgen beim packen schaut Juan nochmals vorbei . Ich bedanke mich herzlich für seine Gastfreundschaft und wir verabschieden uns bevor ich den weiteren Weg unter die Räder nehme.
Im staubigen und verlassen wirkenden Ort Epinaza ist der Abzweiger Richtung Süden, hinein in die trockenen Berge. Reisende nach Santa Cruz de la Sierra, im Tiefland, fahren geradeaus weiter. Das tun die Meisten, denn der Grossteil der weiteren Strecke nach Sucre ist aus Pflasterstein und Schotter und wird nur vom lokalen Verkehr benutzt. 15 Kilometer, bis zum wunderschön erhaltenen Dorf Totora, ist es noch geteert. Es hat eine Luxusherberge hier aber ich nehme das etwas bescheidenere Hotel mit einem grossen Innenhof, in dem Campesinofrauen, auf dem Boden sitzend, Handarbeiten ausführen und in Quechua über den Gringo mit dem Fahrrad kichern. Quechua ist die ürsprüngliche Inkasprache und wird hier sogar wieder in den Schulen gelehrt.
Wie erwähnt kommt nun der gebirgige Abschnitt mit der Strasse aus Natursteinpflaster von etwa 90 Kilometern bis Aiquile. Eine höchst unangenehme Unterlage. Vor allem mit dem Velo. Es ist unglaublich holprig aber dafür hat es nur wenig Verkehr in der herrlichen Landschaft. In den Weilern auf dem Weg treffe ich keine Leute, die ich um Wasser bitten kann. Erst bei einem Fluss, nach einer steilen Abfahrt auf der Rüttelpiste, kann ich die Flaschen füllen. Beim Aufstieg sehe ich eine Frau bei einem Haus und ich frage sie, ob das Wasser ok sei. Es sei sehr gut und sauber und sie habe sogar einen kleinen Laden. Sie würde wohl etwas mehr verkaufen wenn sie ein Schild anbringen würde aber daran scheint die gute Frau keinen Gedanken zu verlieren. Wieder mit frischem Wasser und einer grossen Flasche Fanta beladenem Velo, schiebe ich meinen „Maulesel“ wieder hoch und zelte auf der Anhöhe neben grossen Kakteen. Superplätzchen heute!
Aiquile, das zweite grössere Dorf zwischen Cochabamba und Sucre, ist keinen Vergleich wert mit Totora. Ich esse hier zu Mittag und fahre gleich weiter. Es geht nun, einem nur wenig Wasser führenden Fluss entlang, immer leicht abwärts. Es hat kleine Dörfer am Weg und die Unterlage ist zwar nicht geteert aber der Schotter ist das reinste Himmelreich verglichen mit dem steinigen Abschnitt vorher. Am Abend sehe ich einen Campesino auf einem Feld am Fluss und rufe ihm zu, ob ich bei ihm am Fluss zelten darf. Ich verstehe nicht was er mir sagen will aber er weist mit den Armen auf die Einfahrt. Später kommen nach und nach Leute vorbei. Einige Kinder und 3 Männer, von denen jeder behauptet, ich befände mich auf seinem Grundstück. Ich bin etwas verwirrt ob den“ komplizierten Besitzverhältnissen“ hier, aber Sorgen brauche ich mir keine zu machen. Ein Campesino erzählt, wie hart es hier sei, denn jetzt wo die Trockenzeit beginnt, sei das Wasser schon knapp und er müsse sich bald welches mit dem Tanklastwagen herbringen lassen. Es habe schon Grundwasser aber dafür müsse man einen tiefen Brunnen bohren und das sei sehr teuer. Am nächsten Morgen als ich mich waschen und Wasser holen möchte, werde ich selber“ Opfer“ der Wasserknappheit, denn über Nacht ist auch das letzte Rinnsal des Flusses versiegt.
Als zweite Überraschung muss ich noch einen Platten flicken, denn der Zeltplatz, so schön er auch war, befand sich in dornigem Gelände. Dies nun schon zum zweiten Mal hintereinander, denn schon am Vortag ist mir dasselbe passiert. Während dem Flicken kann ich mich mit den morgendlichen Passanten unterhalten, die auf dem Weg auf ihre Felder sind.
Am Abend bei der Suche nach einem Zeltplatz, ich fahre inzwischen auf der hügeligen Strasse entlang des Rio Chico, sehe ich eine günstige Stelle nahe eines Maisfeldes, ziemlich weit unten. Es hat einen steilen Weg hinunter aber der Platz scheint den Aufwand Wert. Ich muss ein Gatter aufmachen aber das sollte keine Probleme geben, denk ich mir. Unten angekommen muss ich leider feststellen dass ein wenige Meter hoher Abhang den Zugang zum Wasser führenden Fluss erschwert. Zusätzlich hat der Besitzer des anscheinend so kostbaren Maisfeldes den Rand entlang des Abhangs mit Dornenästen versehen, damit es wohl ja keinem stupiden Velofahrer in den Sinn komme, hier zu zelten. So kommt es mir in diesem Moment wenigstens vor... Es gelingt mir, nach längerem suchen und erheblichem Aufwand, dann doch noch an das Wasser zu gelangen und die Flaschen zu füllen, denn ich habe weissgott keine Lust wieder hochzulaufen und einen anderen Zeltplatz zu suchen. Und schon gar nicht um diese vorgerückte Tageszeit.
Ab der Brücke bei der Ortschaft mit dem bezeichnenden Namen Puente Arce, ist die Strasse geteert bzw. am Anfang aus Beton. Die letzten gut 30 Kilometer, sozusagen als Dessert ganz zum Schluss serviert, der steile Aufstieg nach Sucre. Schon ziemlich abgekämpft erreiche ich einen Polizeikontrollposten wo es nebenan kleine Lebensmittelläden hat.Während ich 2-3 Bananen esse, frage ich die Verkäuferin, mehr um mich selber zu betrügen, ob es denn noch weit sei bis Sucre. Die Antwort ist wie erwartet: “No no, solo esta pequeñita subidita y ya estas en Sucre"! Nur noch die kleine Steigung hier und schon bist du in Sucre, heisst das übersetzt. Man beachte dabei die Verniedlichung der Verniedlichung. Hinter der Kurve warten selbstverständlich noch ein paar weitere Kehren welche es zu bezwingen gibt aber wer dumm fragt, kriegt natürlich eine ebensolche Antwort. Das Gefühl für Raum und Zeit in Lateinamerika scheint verlorengegangen zu sein wenn es überhaupt jemals vorhanden war. In solchen Situationen, wenn ich am beissen bin, bringt es mich (leider) immer noch in Rage.
Endlich, weit weit oben, so kommt es mir vor, erreiche ich den Stadtrand. Ab hier geht’s nun noch ein paar Kilometer wieder hinunter durch das geschäftige Treiben, und ich komme nach ziemlich genau 10monatiger Reise und 11655 Kilometern auf dem Tachometer, am Ziel an: der Plaza 25 de Mayo im Zentrum der bolivianischen Hauptstadt Sucre.
Die Lücke des fehlenden Abschnitts der Panamericana wäre gefüllt wenn ich nicht das Flugzeug genommen hätte zwischen Guatemala Stadt und Cartagena in Kolumbien. Na ja, vielleicht gibt es einmal die Gelegenheit das nachzuholen...